HERR, all mein Sehnen liegt offen vor dir, mein Seufzen war dir nicht verborgen.

Psalm 38,10


Das geht tief und tut gut! Oder etwa nicht? Da ist jemand, der mich ganz genau kennt. Mein Innerstes mit meinen Sehnsüchten und Beschwerlichkeiten liegt offen vor dem Herrn. Für diesen Herrn ist es doch ein kleiner Schritt, dass mein unruhiges und aufgewühltes Ich zur Ruhe kommt.

Richtig, aber auch weit gefehlt! Grundsätzlich richtig, weil letztlich nur Gott meine Sehnsucht stillen und mein Seufzen beenden kann. Falsch, weil es in diesem Vers darum (eigentlich) überhaupt gar nicht geht. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Die hier gelegte Spur hat mit dem Zusammenhang des Textes nicht wirklich viel zu tun.

Womit denn dann? Darauf deuten schon die Überschriften hin, welche die Übersetzer des Textes diesem Abschnitt gegeben haben. Da liest man Klage eines Kranken oder noch treffender In schwerer Heimsuchung – der dritte Bußpsalm oder Unter der Last von Krankheit und Schuld.

Doch die Realität des Textes spitzt das noch viel mehr zu und ist (für unsere neutestamentlichen Ohren) kaum auszuhalten. David spricht hier von zahlreichen Symptomen für gleich eine ganze Anzahl von Krankheiten. Er ist depressiv, von Schmerzen durchflutet, vollkommen kraftlos, hat Herzrhythmusstörungen, wird von Freunden gemieden und von Feinden heimgesucht. Da ist nichts Gesundes mehr zu sehen. Sünde schlägt bei David auf den ganzen Körper durch. Und das nicht, weil er krank ist, sondern weil er gegen Gott gesündigt hat. Hallo? Dies entspricht nun wirklich nicht unserem Denken. Wir akzeptieren noch, dass eine ungesunde Lebensweise uns körperlich einschränkt. Wir können uns vorstellen, dass Erlebnisse, bestimmte Denkmuster und Traumata in der Folge psychosomatische Auswirkungen haben können. Aber Sünde, eigene Verfehlung gegen Gott macht nachhaltig krank, entzieht einem alle Kräfte und Lebenslust?

Ich muss mich jetzt ein klein wenig zurücknehmen, denn es kann jetzt zu verschiedenen Irrtümern kommen.

Irrtum Nummer eins: Krankheit ist in aller Regel eine Folge der eigenen Sünde. Diesem Irrtum sind schon die Jünger erlegen, als sie Jesus nach dem blind geborenen Mann fragten, wer denn gesündigt hat; wohl die Eltern, er selbst konnte dies ja nicht gewesen sein. Jesus wehrt diese Vermutung ab. Oder wenn es dann in die Aussage mündet: „Du bist krank, weil du nicht genug glaubst“, dann sind wir im Missbrauch von Gottes Autorität gelandet. Das wäre schreiende Ungerechtigkeit gegenüber vielen, vielen Menschen. Es ist eben so: Krankheit, Schmerz und Vergehen werden uns in dieser Welt nicht in Ruhe lassen. Eine Welt ohne Tränen und Tod – und natürlich mit dann erfüllten Sehnsüchten und ohne Seufzen - bleibt Gottes neuem Himmel und Gottes neuer Erde vorbehalten.

Irrtum Nummer zwei: Krankheit ist nie Folge der Sünde. Hier fallen wir auf der anderen Seite vom Pferd. In unserem heutigen Denken können gerade noch den Gedanken ertragen, dass wir nun einmal unter den Folgen zu leiden haben, wenn wir Raubbau an unserem Körper betreiben. Aber glauben wir wirklich, dass es keine geistlichen Zusammenhänge gibt, wie es unserem Körper geht, wenn wir in konkreter Sünde leben? Sünde kann krank machen!

Bitte versteht mich nicht falsch: Es geht nicht darum, beim nächsten Zwicken im Knie mein Leben mit allen Sündenregistern dieser Welt abzugleichen und im meinem Gewissen zu bohren, wo ich etwas gegen Gott verzapft haben könnte. Das hat David auch nicht getan. Er hat nicht wegen der Krankheit nach seiner Sünde gesucht, sondern er wusste, dass seine Krankheit Folge seiner Sünde ist. Wir fragen uns oft, was Gott in unserem Leben will und tun uns hier und da schwer mit einer Antwort. Manchmal aber steht auch die Frage im Raum: Was will Gott von dem allen nicht, was ich gerade so treibe? Wo habe ich Dinge, die mir bewusst und vor Augen sind, nicht unter das Kreuz gebracht? Manchmal ist die Antwort leicht zu finden und gegenwärtig. Hier sollten wir dann wirklich genauer hinschauen und handeln. David musste auch nicht suchen. Er wusste, wo er sich gegen Gott vergangen hat. Wir werden nicht vor Leben sprühen, wenn wir uns von Gott entfernen.

So, und jetzt kommt der zweite Blick auf den Vers. Er ist – wenn man so will – neben den beiden letzten Sätzen der einzige Hoffnungsschimmer in diesem 23-Verse-Psalm. Wenn schon die Sünde Ursache der Schmerzen ist, dann weiß David auch, wer helfen kann, wer das tiefe Seufzen hört. Er wendet sich an Gott und betet nicht etwa um Heilung, sondern bekennt seine Schuld und bittet um Rettung von seiner Sünde und darum, dass Gott ihm wieder gut ist. Die Atmosphäre dieser ganzen Verse strahlt aus, wie entscheidend dieser Schritt ist. Er bedeutet Leben, nicht mehr und nicht weniger.

Wir wissen nicht, was die konkrete Sünde in diesem Falle war. Wir wissen auch nicht, wie schnell und wie vollständig Gott das Flehen erhört hat. Aber wir kennen das Verhältnis zwischen David und Gott, dem Mann nach dem Herzen Gottes. Daher ist der Schluss zulässig, dass David hier richtig gehandelt hat. Wir wissen aus dem Leben Davids, dass Sünde das Leben verzehrt und vernichtet. Deshalb ergibt nichts anderes Sinn als bei Gott um Vergebung zu suchen. Und dabei vielleicht sogar Gesundheit finden.

Thomas Cziesla